Lärmschutzwand als vertikaler Sportplatz
veröffentlicht in sb 4/2020
Inmitten der Stadt Heilbronn sind im Zuge der Bundesgartenschau Heilbronn 2019 Parkanlagen und Biotope entstanden, die Industrieanlagen, neue Wohnbebauung und Bahngleise „umflechten“. Die Grünanlagen dienen als öffentliche Freiräume, nehmen aber gleichzeitig ökologische und technische Funktionen wahr. Von dieser „Multicodierung“ auf teils sehr beengtem Raum ließen sich die Architekten von SINAI bei der Gestaltung inspirieren, ganz im Sinne des „form follows function“-Gedankens.
Die Flusslandschaft im Zentrum Heilbronns war lange fragmentiert und geprägt von Barrieren und Brachen. Mit dem Impuls des neuen Stadtquartiers im Neckarbogen begann die Stadt in ihrem Innern zusammenzuwachsen. Eine wichtige Stellschraube dabei ist der Hafenberg, der das Modellquartier von den Bahngleisen der Industriestadt abschirmt und zugleich Lebens-, Spiel- und Sportraum ist.
photo: SINAI
Gut zu wissen
Foto: SINAI
Standort
Heilbronn, Deutschland
Bauherr/Betreiber
Stadt Heilbronn vertreten durch die BUGA Heilbronn 2019 GmbH
Architekten
SINAI
Gesellschaft von Landschaftsarchitekten mbH
DE – Berlin und Frankfurt
www.sinai.de
Projektpartner
Machleidt GmbH für Städtebau
Wald + Corbe GbR
Polyplan GmbH
BIB Kutz Ingenieurbüro
CDM Smith Consult GmbH
Autor
SINAI
Fotos
Nikolai Benner
SINAI
Offizielle Eröffnung
2019
Baukosten
Daueranlage: 30 Millionen EUR
Intelligentes Materialrecycling
Foto: SINAI
Der Hafenberg mit dem bis zu 12 m hohen „Felsenufer“ ist ein spektakuläres Beispiel für die Multifunktionalität. Mit seiner skulpturalen Geometrie hat er eine Länge von rund 800 m, misst an seiner engsten Stelle aber gerade mal 50 m Breite. Er dient als Beispiel für intelligentes Materialrecycling: Die Aufschüttung mit teils kontaminiertem Vor-Ort-Material wurde im Zuge der Geländemodellierung realisiert – insbesondere während der Herstellung der beiden Seen sowie der Baufelder.
Durch die Wiederverwendung des Aushubs ist die Erdmassenbilanz sehr positiv. Auf 6,5 ha bisher ebenen, brachliegendem Gelände wurden 300.000 m2 Boden zu einem 9 bis 12 m hohen Wall aufgeschüttet. Die entstandene Erdskulptur wird mit Gabionenwänden abgefangen, bildet gleichzeitig einen Sicht- und Lärmschutz gegenüber den dahinterliegenden Bahngleisen, schafft ein expressives landschaftliches Rückgrat vor der Industriekulisse am Neckarkanal und beherbergt eine Kletterwand sowie einen vertikalen Spielplatz.
Inspiriert durch die Kletterfelsen aus Sandstein und die Weinbergterrassen in der Heilbronner Umgebung entstehen so Assoziationen mit den Prallhängen des Neckars sowie ein regionaler und atmosphärischer Bezug zum Umland.
Klettern, Hangeln und Rutschen
Foto: Nikolai Benner
Das „Felsenufer“ ist der zentrale Abenteuerspielplatz der Parkanlage mit dem übergeordneten Thema „Klettern“. Die Anlage verbindet den „Skywalk“ auf dem Grat der Erdskulptur mit Aussichtsbalkon, Rasenflächen zum Picknicken und Freitreppen zum Karlssee mit den Spielbereichen und Boulderwänden sowie den zwei zum See exponierten Kletterwänden. Die räumliche Trennung der Spiel- und Kletterbereiche entsteht durch die Tiefenstaffelung der Anlage, welche auf drei freistehende Spundwandsegmente zurückzuführen ist.
Der Spielbereich befindet sich zwischen den Wandscheiben. Das Thema Klettern wurde in unterschiedlichsten Formen und Schwierigkeitsstufen umgesetzt. So ist es möglich, von der obersten Ebene am Skywalk bis auf den Boden durch verschiedene Seillandschaften oder einen senkrechten Kletterkamin hinunterzuklettern. Die Einstiege sind als sogenannte „Kleinkindfilter“ ausgebildet, die einen Zugang für die Kleinsten verhindern. Im nördlichen Abschluss des Spielbereichs befindet sich der „Klettersteig“, der eine Kombination aus Klettern, Hangeln und Rutschen in einer Hangsituation bietet. Rutschen in unterschiedlichen Längen, Hangelstrecken und ein Stangenpfad ermöglichen das Überwinden der verschiedenen Ebenen. Die Fallbeläge sind aus EPDM und Fallschutzkies hergestellt.
Die bodennahen Spieleinrichtungen bestehen im Wesentlichen aus Hangrutschen und aus einem Kinder-Boulderbereich, der entlang der hinteren Stützwand mit einer maximalen Kletterhöhe von 2,00 m und einer maximalen Greifhöhe von 3,00 m aufgezogen wird. Zwischen Klettersteig und Spritzbetonwand wurden Treppenstufen platziert, was auch der älteren Generation ermöglicht, im Bedarfsfall auf kurzem Wege sicher zwischen den unterschiedlichen Ebenen zu wechseln.
Von einem überhängenden Balkon aus kann das Geschehen hautnah beobachtet und das gesamte Gelände überblickt werden.
Modellierung vor Ort
Die Modellierung der eigentlichen Kletterwände erfolgte in einem aufwändigen Spritzbetonverfahren. In einem ersten Schritt wurden Gewindestäbe horizontal in die Spundwände montiert und auf diese die statisch notwendigen Bewehrungsmatten befestigt. Durch Aufbringen von Streckmetallgittern konnte die grobe Kubatur mit Überhängen, Rücksprüngen und Versätzen vormodelliert werden. Das Volumen wurde in einem zweiten Schritt kraftschlüssig durch eine graue Spritzbetonschicht C 25/30 hergestellt; die Feinstruktur der Oberfläche besteht aus einer sandsteinfarbigen Mörtelschicht, die in einem dritten Schritt aufgespritzt wurde.
Ziel war es, eine optimale Oberflächenstruktur herzustellen, die sowohl den architektonischen Ansprüchen der Gesamtanlage als auch den Anforderungen einer Bekletterbarkeit in verschiedenen Schwierigkeitsgraden gerecht wird. So wurden verschiedene Klettermerkmale wie Fingergriffe oder Risse händisch in den noch feuchten Beton modelliert.
Der Hafenberg prägt das Gelände maßgeblich als identitätsstiftender Bestandteil der neuen Landschaften im Neckarbogen. Entstanden ist ein spektakuläres Bauwerk mit regionalem Bezug, welches zeitgleich die technischen Vorgaben einer Lärmschutzwand erfüllt, Lebensraum und vertikaler Spiel- und Sportplatz ist.
Foto: SINAI
